Lars von Triers „Nymphomaniac“ ist ansprechend, abstoßend, verstörend, schön, lustig, traurig, philosophisch. Wer einen „arty“ Pornofilm erwartet, wird enttäuscht. Noch nie war so viel Sex so ungeil…
Zu Beginn ist die Leinwand dunkel, dann sieht man eine verschachtelte Seitenstraße, es schneit, gleichzeitig läuft Wasser durch die Regenrinnen. Es ist ruhig, bis die Kamera über einen Körper fährt, der am Boden liegt. Es ist eine Frau mit langen Haaren, Schal, Jacke, Blutergüssen, mittleren Alters. Es ist noch immer ganz still. Die Kamera fährt wieder zurück und gibt den gesamten Blick auf die Seitengasse frei. Plötzlich setzt Musik ein. Aber nicht irgendeine Musik, sondern Rammstein mit „Führe Mich“…
Seligman (Stellan Skarsgård) findet Joe (Charlotte Gainsbourg) in einer Seitengasse blutend am Boden liegend. Er nimmt sie mit in seine Wohnung und bringt ihr erst mal eine Tasse Tee. „Ich bin ein böser Mensch“ sagt Joe zu Seligman. Dieser zeigt sich unbeeindruckt und Joe beginnt ihre Geschichte zu erzählen. In 8 (5+3) Akten. Volume I und Volume II. Vier Stunden. „Perhaps the only difference between me and other people is that I’ve always demanded more from the sunset. More spectacular colors when the sun hit the horizon. That’s perhaps my only sin.“ Joe ist bekennende Nymphomanin, somit dreht sich ihr Leben nur um eine Sache, von der sie nie genug bekommen kann: Sex. Schon als kleines Kind habe sie gemerkt, sie ist anders. Als Teenager steigt sie mit einer Freundin in den Zug und versucht mit soviel Männern wie möglich Sex zu haben. Für eine kleine Tüte Süßigkeiten. Immer wieder während ihren Erzählungen vergleicht Seligman ihr Sexleben mit Fibonacci-Nummern, erzählt ihr von philosophischen oder religiösen Begebenheiten die er als Parabel für ihr Leben sieht, doch eines macht er nie: er urteilt keine einzige Sekunde über Joe. Deswegen erzählt sie immer weiter und weiter, bis zum dem Tag an dem sie in der Seitengasse brutal zusammengeschlagen wird…
Von Anfang an hat mich „Nymphomaniac“ überrascht. Nach den ersten Minuten lauschte ich den tiefsinnigen, wenn auch ein wenig belehrenden, Gesprächen zwischen Joe und Seligman. Hier muss man sich schon konzentrieren, damit man alles mitbekommt, was da so gesagt wird. Es wäre schade, auch nur ein Wort davon nicht zu hören. Die Szenen zwischen den beiden wirken wie ein Theaterstück, die Rückblenden in Joe’s Leben sind nicht nur in Akte unterteilt, sondern jeder Akt hat auch seine eigene Erzähldynamik und Bildsprache. Volume I, also der erste Teil mit den Akten 1-5, hat eine gewisse Leichtigkeit, die bei all der Einsamkeit, die ein Leben als Nymphomanin so mit sich bringt, nötig ist. Eine der besten Szenen im gesamten Film ist die Szene als Mrs. H (Uma Thurman) ihren Mann, der sie gerade verlassen hat, in die Wohnung von Joe (als junge Frau dargestellt durch die Newcomerin Stacy Martin) folgt. Im Schlepptau hat sie die drei gemeinsamen Kindern, die sich doch bitte das „whoring bed“ anschauen sollen. Es wäre sehr wichtig, vor allem für die spätere Therapie der Kinder. Der zweite Teil ist viel schwerer und konzentriert sich auf das Leben nach der Jugend. Kein Wunder, denn das Leben einer Sexsüchtigen hinterlässt nicht nur Spuren am (und im) Körper, sondern auch auf der Seele.
Regisseur Lars von Trier spricht durch Joe und Seligman mit dem Publikum. Nach seinem angeblichen skandalösen „Nazi-Sager“ spricht er nämlich nicht mehr mit der Presse. Dann ist wohl der einzige Skandal, dass „Nymphomaniac“, dieses „Pornodrama“ mit expliziten Sexszenen, richtig gut geworden ist.
Bewertung:
Soundtrack: