Musicals? Wer schaut Musicals?
Sind wir uns ehrlich. Musicals sind wie Jazz. Man weiß, dass es ihn gibt. Man hat eine Meinung. Man hört ihn nicht.
Was müsste ein Musical haben, damit man dafür extra ins Kino geht?
Allem voran müsste die Besetzung interessant sein. Sagen wir Emma Stone und Ryan Gosling als Pärchen, das vom Schicksal zusammengeführt wird. Und ein Leitmotiv für ihre Beziehung. Eine Melodie, die sich im Verlauf des Films mit den Figuren ändert. Und die wir nach Ende des Films noch immer summen und dabei ein Lächeln im Gesicht haben und uns gleichzeitig die Träne im Auge so wegwischen, dass andere glauben könnten, dass wir nur etwas im Auge hatten.
Dann ein Regisseur, der den Traum hat, ein modernes Musical auf die große Leinwand zu zaubern und sich gleichzeitig vor dem alten, dem magischen, Hollywood verbeugt. Zusätzlich müsste der Regisseur einerseits anerkannt, andererseits auch sehr jung sein. Zum Beispiel Damien Chazelle, der vor Kurzem mit „Whiplash“ aufhorchen ließ. Das Percussion-Heldenepos war mehrfach Oscarnominiert und ihm standen nach dem großen Erfolg alle Möglichkeiten offen. Sein nächstes Projekt durfte etwas Riskanteres werden.
Aber ein Musical von heute müsste entweder Tabus brechen („The Producers“, „The Book of Mormon“, „Little Shop of Horrors“,…) oder so meisterhaft inszeniert sein, dass selbst Zweifler in Anerkennung ihre Köpfe schütteln („Moulin Rouge“). Für jedes Meisterwerk erscheinen aber auch zehn Rohrkrepierer („Chicago“, „Glitter“, „Nine“, „Rent“,…). Man könnte sich aber auch den Regeln des Genres ergeben und gleichzeitig das Format hinterfragen.
Stellen wir uns also vor:
Unser Musical beginnt in Hollywood. Genauer, in einem Stau auf dem Highway. Aus jedem Auto dröhnt Musik. Insgesamt ergibt das eine Kakophonie aus Popsongs. Gemischt mit Hitze, Stress und Ungeduld finden wir uns sofort in unserem Alltag wieder. Da springt jemand aus dem Auto und beginnt zu tanzen. Andere folgen und plötzlich singen und tanzen alle Menschen auf der Autobahn. Die Spielregeln sind etabliert und wir erkennen was diese Art von Film besser macht, als jede andere.
Sie veräußerlicht die Emotionen, die Träume und Ängste. Die ZuseherInnen haben damit einen emotionalen Bezugspunkt. Wir wollen ja alle von Zeit zu Zeit aus unserem Alltag ausbrechen und uns unseren Gefühlen hingeben.
Ton und Musik begleiten uns daraufhin durch den gesamten Film. Ryan Gosling kündigt sich mit einem Hupen an. Menschen betreten Cafés und Bars nicht wegen deren Reklamen, oder Angeboten, sondern weil die Musik sie aus ihren Gedanken reißt und sie den Melodien nachgehen wollen. Wenn zwei sich streiten verstummt zum Beispiel die Musik. Alles dreht sich um die durch Musik verkörperten Gefühle.
Und gleichzeitg ist der Film ein Kommentar auf Vergangenes und Mögliches.
Ryan Gosling fragt, ob Emma Stone Jazz mag. Sie verneint. Er meint darauf, dass es sich dabei um ein Pauschalurteil handelt, da einem ja die Zusammenhänge fehlen. Man müsste wissen woher es kommt, damit man weiß, was man daran hat. In Wirklichkeit spricht hier der Regisseur über seine Liebe zum Musical. Ein weiteres Beispiel ist ein Dialog zu den Themen Vorbilder und Integrität. „Wie soll man Revolutionär sein, wenn man nur Revolutionäre von früher huldigt? Die Revolutzer von damals, sind die Grundlagen von heute!“.
Nun müsste unser Musical aber auch diesen Spagat zusammenbringen. Einerseits die Spielregeln kennen und verwenden, gleichzeitig aber auch das Genre weiterbringen. Dazu müssten Erwartungshaltungen gebrochen werden, ohne die ZuseherInnen zu verstören.
So etwas funktioniert aber nur, wenn ein Film mehr ist, als nur eine glänzende, singende und tanzende Oberfläche. Der Film müsste Themen hinter der Leinwand versteckt haben und diese adäquat verarbeiten. Wenn der Film in Hollywood spielt gäbe es wohl kaum bessere Themen als Wunschträume, Leidenschaft und Verbitterung. In einer Gesellschaft aus Sternen, Handys und Vergangenem lassen sich schnell zwei Träumer finden, die zwischen Geldnot, Ethik und einem Lebenstraum hin und hergeworfen werden. Aber da ist „Someone in the Crowd“, wie eines der Lieder heißt. Und man erwartet, dass sich unsere zwei Hauptfiguren, ganz wie Romeo und Julia, bei einer Party über den Weg laufen. Alles deutet darauf hin. Plötzlich fällt Schnee. Zeitlupe. Große Augen. Aber kein Partner. Keine Partnerin. Erst am Ende des Films versteht man dann den Text des Liedes ganz. Denn es gibt da draußen immer jemanden, der für dich gerade wichtig wäre. Vielleicht ist es nicht die Person, mit der du alt wirst, aber für die Party, für deinen Job, für den ersten Kaffee des Tages, ist jemand genau der/die Richtige.
Und so finden sich unsere zwei Figuren dann doch. Und es kommt so, wie wir uns das gewünscht haben. Und doch ganz anders. Und doch sooo schön.
Unser Musical müsste also sehr erwachsen sein. Ein Film, der von Träumen handelt und keine Angst hat emotional und naiv zu sein. Sich aber gleichzeitig unmittelbar und realistisch anfühlt. Ein Film, der erst nach wiederholtem Mal schauen, wenn er dann langsam Teil von einem wird, zum Klassiker wird. Ein Klassiker von dem die ersten Kritiken und auch die Golden Globe Nominierungen schon jetzt sprechen.
Lasst uns das Musical, dass das alles kann doch einfach „La La Land“ nennen. Lasst es uns in einer Welt voller falscher Helden und romantisierten Erinnerungen spielen, in der die Graffitis der alten Hollywoodstars langsam verblassen, in der in jedem vorbeifahrenden Auto ein anderes Lied läuft, ganz so als ob jede Person seine eigenen Gefühle und Träume hätte, in der zwar „alles angebetet wird, aber nichts gewürdigt“, in der ein Filmriss noch passieren kann, in der sich das Licht von einer Sekunde zur nächsten ändert, weil die Emotionen die Realität verändern, eine Welt in der man sich im Kino trifft und in der Träume wahr werden. Aber dann doch so realistisch, dass sie sich anders erfüllen, weil wir nicht wissen, was am besten für uns ist. Das macht dann schon das Schicksal für uns. Uns bleibt nur, integer zu bleiben. Und uns „La La Land“ anzusehen. Unser Musical.
Die Filmbewertungskommission hat dem Film ein „Besonders Wertvoll“ gegeben. Einem Musical. DEM Musical unserer Zeit. Ein Kommentar auf Filme, Träume und Musicals selbst. Ein Kniefall vor Hollywood und all den Menschen da draußen, die nicht aufgegeben haben zu träumen. „The Fools who Dream“.
Stellen wir uns also vor, es gäbe ein modernes Musical da draußen, mit hübschen Menschen, mitreißenden Liedern, einem jungen Regisseur, der sein Herzensprojekt realisieren durfte und gleichzeitig einen Tiefgang zulässt und die Genrekonventionen würgt, ohne die Romantik zu zerstören…
Wenn ihr also Ende Februar bei den Oscars mitreden wollt, solltet ihr jetzt ins Kino gehen und euch „La La Land“ ansehen. Obwohl es ein Musical ist. Weil es ein Musical ist.